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Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus
Die nachfolgenden Beiträge wurden - abgesehen von der Rede des Bürgermeisters - am Evangelischen Gymnasium Nordhorn erstellt. Anlass war der Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 9. November 2020, bei dem insbesondere an die Geschehnisse der sogenannten Reichspogromnacht am gleichen Tag im Jahr 1938 erinnert wird.
Auf eine öffentliche Gedenkveranstaltung wurde aufgrund der aktuellen Corona-Lage verzichtet. Stattdessen sind die Beiträge nun hier verfügbar.
Jeder der insgesamt sechs Beiträge steht für sich, aber alle Beiträge ergeben ein Ganzes. Aus organisatorischen Gründen musste die Reihenfolge der Beiträge nachträglich angepasst werden.
Rede des Bürgermeisters Thomas Berling zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
9. November 2020
Wir gedenken der Opfer des Nationalsozialismus heute nicht im Rahmen einer öffentlichen Zusammenkunft. Gedenkveranstaltungen sind zwar keine Unterhaltungsveranstaltungen und wären damit auch unter Corona-Bedingungen in gewissem Rahmen erlaubt. Trotzdem haben die Stadt Nordhorn und alle weiteren Beteiligten entschieden, heute keine Gelegenheit für das Virus zu schaffen, sich weiter zu verbreiten.
Denn zu den jährlichen Gedenkveranstaltungen in Nordhorn kommen normalerweise viele Menschen. Sei es zum internationalen Holocaust-Gedenken am 27. Januar, zum Tag der Befreiung vom zweiten Weltkrieg am 8. Mai, zum Antikriegstag am 1. September, zum Volkstrauertag im November und auch zum heutigen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus und zur Erinnerung an die sogenannte Reichspogromnacht vor 82 Jahren.
Nordhorn steht an diesen Tagen zusammen, sowohl im wörtlichen, als auch im übertragenen Sinn. Bürgerinnen und Bürger nahezu aller Altersklassen setzen sich an den Gedenktagen aktiv mit unserer Geschichte auseinander. Gemeinsam nehmen wir die unangenehmen, dunklen Kapitel dieser Geschichte in den Blick. Und wir erinnern uns an die Menschen, die damals zu Opfern wurden.
Es ist uns allen ein wichtiges Anliegen, dass diese Teile der Geschichte und insbesondere diese Menschen nicht in Vergessenheit geraten. Denn nur die Erinnerung bewahrt uns davor, die Fehler von damals zu wiederholen. Nur die Erinnerung bewahrt uns davor, unsere Menschlichkeit und Nächstenliebe gegen Angst und Hass einzutauschen.
Diese Aufgabe wird umso schwieriger und gleichzeitig umso wichtiger, je weiter wir uns zeitlich von den Ereignissen wegbewegen. Kaum jemand hat die Novemberpogrome 1938 noch persönlich miterlebt. Wir müssen also gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Erinnerung gespeichert und sorgsam bewahrt wird, damit wir sie nicht verlieren. Vieles lässt sich in Büchern nachlesen. Doch ein Buch hat keine Wirkung, wenn es nicht regelmäßig aufgeschlagen und daraus gelesen und vorgelesen wird. Dazu nutzen wir die Gedenktage.
Diesmal haben Schülerinnen und Schüler vom Evangelischen Gymnasium einen entsprechenden Beitrag vorbereitet. Ihnen und ihrem Lehrer Marvin Weigel ein ganz großes Dankeschön dafür! Man hätte ihnen eine größere Bühne gewünscht. Doch Sie können sich das, was sie vorbereitet haben, stattdessen als Video auf unserer Internetseite anschauen.
Was wissen wir über die Nacht vom 9. Auf den 10. November 1938? Die Augenzeugenberichte sagen uns, dass es vor allem in der SA und SS organisierte Männer waren, die Aktionen gegen die jüdischen Familien in Nordhorn durchführten. Von der Gestapo und vom Sicherheitsdienst mobilisiert, zerstörten Sie in der Nacht vom 9. auf den 10. November zunächst die Einrichtung der Nordhorner Synagoge und warfen die religiösen Gegenstände auf die Straße. Um keines der umliegenden, nichtjüdischen Häuser zu beschädigen, brannten sie die Synagoge nicht herunter, sondern rissen sie ein und trugen sie Stein für Stein ab. Bis zum Morgen waren nur noch die Grundmauern übrig. Sie zerstörten die Fenster und die Einrichtung der jüdischen Wohnungen und Geschäfte. Die Waren warfen sie teilweise auf die Straße, teilweise häuften sie ihre „Beute“ in einem Schulgebäude an. Die jüdischen Männer wurden gefangen genommen, nach Osnabrück und von da aus ins Konzentrationslager Oranienburg in Berlin gebracht. Zum Abschluss marschierte die Truppe feierlich durch die mit Glasscherben bedeckte Innenstadt.
Die übrige Nordhorner Bevölkerung schaute zu oder schaute weg. Einige bedienten sich an den Waren, die vor den Geschäften auf dem Boden lagen. Die Polizei regelte den Verkehr. Doch eingegriffen hat den Berichten zufolge niemand.
Jahr für Jahr stellen wir uns an diesem Gedenktag die Frage, wie es so weit kommen konnte. Und wir stellen uns die Frage, wie wir in der damaligen Situation gehandelt hätten. Hätten auch wir tatenlos zugesehen? Hätten wir geschwiegen? Wären wir vielleicht sogar selbst aktiv gewesen, hätten wir bei der Zerstörung mitgemacht?
Wir können es nicht wissen. Aber wir können uns heute, im Hier und Jetzt dafür einsetzen, dass so etwas wie die Novemberpogrome und der Holocaust niemals wieder passieren.
Angst und Hass waren wichtige Treiber der Ereignisse, die letztlich zum programmatischen Holocaust geführt haben. Sie wurden von den Nationalsozialisten gezielt geschürt. Juden wurden nicht nur diskriminiert, ihnen wurden gefährliche Eigenschaften angedichtet. Sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes dämonisiert. Angeblich vergifteten Sie das Wasser, ermordeten Kinder und schädigten das Gemeinwesen insgesamt. Zahlreiche Verschwörungstheorien wurden über sie verbreitet. Schließlich wurde ihnen die Menschlichkeit schlicht aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit und Herkunft aberkannt, sie wurden zu hunderttausenden in Konzentrationslager gebracht und ermordet. Diese Verbrechen sind so schrecklich und so unfassbar, dass ich keine angemessenen Worte dafür finde.
Angst und Hass sind schlechte Ratgeber. Wer Angst hat, handelt nicht rational. Wer hasst, handelt nicht menschlich. Das machten sich die Nationalsozialisten zu Nutze. In einem selbstgemachten Klima von Angst und Hass konnten Sie ihre Macht immer weiter ausdehnen. Sie schürten die Sorgen der Bevölkerung und boten sich gleichzeitig selbst als Problemlöser an. Und obwohl ihr Vorgehen im Nachhinein so durchschaubar war, konnten sie ausreichend viele überzeugen. So verwandelten sie Deutschland in einen totalitären Staat in einem totalen Kriegszustand, an dem sich ausschließlich wenige Personen an der Führungsspitze bereicherten, während das restliche Volk leiden musste.
Auch heute haben viele Menschen Angst. Sie fürchten das Corona-Virus. Manche sorgen sich auch davor, dass das Corona-Virus nur dazu dient, noch größere Gefahren zu vertuschen. Den meisten Verschwörungstheorien liegen ebenfalls Angst und Hass zugrunde.
Darum ist es wenig verwunderlich, dass an den sogenannten Anti-Corona-Demonstrationen regelmäßig rechtsradikale Personen und nationalsozialistisch verwurzelte Gruppierungen teilnehmen. Die Schwarz-weiß-rote Reichsflagge als Ersatzsymbol für das verbotene Hakenkreuz sehen wir auf diesen Veranstaltungen immer wieder.
Heute wie vor 82 Jahren gehört es zum typischen Vorgehen der Nationalsozialisten und Rechtsradikalen, immer dort aufzutauchen, wo Menschen Angst haben. Dort, wo Menschen nicht mehr rational handeln und denken, wo sie unvorsichtig werden und nach schnellen und einfachen Lösungen für komplexe Probleme suchen. Dort können sie ihre althergebrachten Werkzeuge wie Verschwörungstheorien, Antisemitismus und Populismus voll zum Einsatz bringen. Sie feuern Angst und Hass weiter an und ziehen so mehr und mehr Menschen auf ihre Seite, ohne tatsächlich eine funktionierende alternative Lösung bieten zu können. Ihr Ziel ist es einzig und allein, auf diesem Wege Macht und Geld zu erlangen.
Was bedeutet das für unseren Umgang mit der Corona-Pandemie? Es bedeutet, dass wir dieser Bedrohung keinesfalls mit Angst und Panik begegnen dürfen, denn sonst öffnen wir den Radikalen Tür und Tor. Wir müssen zweifelsohne Respekt vor dem Virus haben. Wir müssen uns bewusst machen, welche Gefahren es für uns als Einzelpersonen und als Gesellschaft birgt. Neben der ganz persönlichen Gefahr, krank zu werden und gegebenenfalls daran zu sterben, steht dabei vor allem die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems im Fokus. Breitet sich das Virus zu schnell aus und sind die Krankenhäuser dadurch voll, dann können nicht mehr alle versorgt werden, die dringend medizinische Hilfe brauchen. Dann würde es zweifelsohne viele Tote geben.
Die Lösung für diese Gefahrensituation ist nicht einfach. Wir müssen unsere persönlichen Kontakte drastisch reduzieren und umfangreiche Hygieneschutzmaßnahmen einhalten. Vom Verbot von Unterhaltungsveranstaltungen über die Personenbegrenzung bei Zusammenkünften bis zur Maskenpflicht müssen wir viele Einschränkungen hinnehmen. Nur so kann es gelingen, die Ausbreitung ausreichend zu verlangsamen. Gleichzeitig müssen wir unser Wirtschafts- und Gesellschaftssystem im Blick halten und dafür sorgen, dass Wertschöpfungsprozesse nicht zu stark beeinflusst werden. Bei alledem orientieren wir uns an wissenschaftlichen Erkenntnissen und an unseren zunehmenden Erfahrungen. Wir orientieren uns an Fakten und bessern die Maßnahmen nach, wenn es sinnvoll erscheint. Die Bundes- und Landesregierungen haben hier eine sehr verantwortungsvolle und schwierige Aufgabe, die sie aber – davon bin ich überzeugt – bislang sehr gut und im Sinne der Bürgerinnen und Bürger meistern.
Sich an die Maßnahmen zu halten, hat nichts mit Angst zu tun, sondern mit vernünftigem sozialem Verhalten. Wir schützen nicht nur uns selbst, sondern auch unsere Mitmenschen vor der Pandemie. Indem wir dabei einen kühlen Kopf bewahren und Angst, Hass und Verschwörungstheorien eine Absage erteilen, schützen wir uns gleichzeitig vor den Nationalsozialisten und anderen politischen Seelenfängern. Denn auch in Corona-Zeiten, auch wenn wir zurzeit voneinander getrennt bleiben müssen, so versichern wir uns heute doch alle gemeinsam, in Gedenken an die Novemberpogrome und den Holocaust und die zahllosen Opfer: Nie wieder darf so etwas geschehen!
Mittwoch im November 1938 in Nordhorn
Beleidigungen wie „Judensau“ oder „du dreckiger Jude“ mussten sich so manche jüdische Bürger Deutschlands damals anhören. Wir greifen das in diesem Text bewusst auf, um deutlich zu machen, wie damals stigmatisiert und gehetzt wurde. Eben deshalb ist für uns inakzeptabel, dass an manchen Schulhöfen in Deutschland die Bezeichnung „du Jude“, als Beleidigung verwendet, wieder im Umlauf ist.
Die Aussagen zu den Handlungen gegenüber den Juden in diesem fiktiven Tagesablauf beruhen auf wahren Begebenheiten. Es kam tatsächlich zu diesen Vorgängen in Nordhorn, in unserer Stadt.
Wir denken bei Nazis an ranghohe Parteikader im damaligen Berlin, beispielsweise an Hitler, Himmler oder Göring. Aber die Taten vor Ort wurden nicht von Hitler, Himmler oder Göring begangen. Sondern von Nazis in Nordhorn.
Ich arbeite bei RAWE und eigentlich war der 09. 11.38, ein Mittwoch, ein normaler Arbeitstag. In der Pause traf ich meine Kollegen. Ich stellte mich zu ihnen und fragte was es so Neues gäbe. Einer reagierte sehr schroff Du hast das nicht mitbekommen?! Diese Juden haben einen deutschen Botschafter getötet! Ein junger Pole.
Kommunisten!“ „Wie? Wann?“ „Ja, so eine Judensau, in Paris!“
Nach der Arbeit ging ich mit zwei Kollegen in meine Stammkneipe. Wir tranken, es wurde Musik gespielt und einige tanzten. Es war so gegen 22.30 Uhr da stürmte ein Mann rein. "Aufforderung aus München! Die SA Leute fangen an, die Synagoge auseinander zu nehmen!“ „Die aus der Kriegerhalle?!"
Ich lief Richtung Hauptstraße und sah Chaos, Aufruhr. Ein Stückchen weiter, Hauptstraße 48, dort wohnten Juden, (heute Geschenkeladen Depot) flogen Sachen aus dem Fenster. Wertsachen, Kleidung und Möbel.
Überall, wo Juden ein Geschäft hatten, wurden die Fensterscheiben eingeworfen, die Ware auf die Straße geschleudert, die Frauen, Männer und Kinder angegriffen und die Männer verschleppt. Gegenüber Nummer 49 (heute Kochlöffel) wohnt Familie Oster, ebenfalls Juden und Inhaber eines Textilgeschäftes. Dort verhafteten die SA Leute Herrn Oster. Seine Frau und Kinder mussten wohl verstört dabei zuschauen, wie ihr Hab und Gut und der Familienvater gleich mit weggetragen wurden.
Ich folgte der Masse Richtung Synagogenstraße. Ich hörte den Lärm von Geschrei, Trümmerteilen und zerbrechenden Fenstern zwar schon von weitem; doch war ich geschockt, als ich bei der Synagoge ankam. Dort waren 20 bis 30 SA Männer dabei, die Synagoge zu zerstören. Viele Nordhorner schauten dabei zu.
Direkt daneben, im Haus Nummer 5 (heute „Mode by Mildes“), wohnt eine jüdische Familie, die Cohens. Ich sah wie der Vater Isaak aus dem Haus gezerrt wurde, während die beiden Töchter 5 und 8 Jahre alt sich mit ihrer Mutter in Sicherheit bringen konnten. Niemand unternahm etwas. Danach wurde auch in ihrem Haus alles zerstört.
In der Synagoge lief das Zerstörungswerk ebenfalls mit aller Macht, da kamen zwei SA Männer aus den Trümmern stolziert und hielten das Heiligste der Synagoge in den Händen. Sie hatten die Tora Rollen aus ihrem schützenden Schrank gerissen und warfen sie wie Dreck auf die Straße. Ich konnte dabei zusehen, wie die Tora Rollen in einem höhnischen Triumphzug durch die Hauptstraße getragen wurden.
Dieses alles geschah unter den Augen der Nordhorner Bürger. Ab diesem Datum konnte niemand mehr sagen, er habe „davon“ nichts gewusst.
Familie Salomonson, Bahnhofstraße 20/16, heute HSG-Geschäftsstelle
Friedrich Salomonson hatte durch die Ehe mit seiner Frau Esther die Villa der beiden Brüder Josef und Isaak Goldsmit und eine Lagerhalle geerbt und betrieb an der Bahnhofstraße ein Betten- und Textilgeschäft. Aufgrund guter Beziehungen konnte er Restbestände der bekannten Nordhorner Textilfirma „Niehues & Dütting“ aufkaufen und mit Gewinn wiederverkaufen.
Er war ein erfolgreicher Geschäftsmann und gehörte dem damaligen Großbürgertum an. Ein gutes Leben in Wohlstand und Frieden wäre ihm und seiner Familie möglich gewesen, hätte es die Nationalsozialisten nicht gegeben.
Seine Villa wurde am 10.November 1938 kurz und klein geschlagen, was ebenso für seine Geschäftsräume galt. Die Waren wurden beschlagnahmt, wir würden in diesem Kontext heute von Raub sprechen. Mitglieder der NSDAP – Nordhorner - holten sich davon ihren Anteil. Der Nordhorner Antisemitismus wurde hier sehr deutlich sichtbar.
Die Kinder von Friedrich und Esther Salomonson, Lion und Hanni, wurden zu deren Schutz direkt nach Almelo gebracht. Ab dem 08. Juni 1938 lebte die Familie in Hardenberg in den Niederlanden, knapp 40 Minuten von Nordhorn mit dem Auto entfernt.
Wahrscheinlich war ihnen bewusst, dass das nicht weit genug entfernt vom Einfluss des Deutschen Reiches war. Die Familie hoffte, in die USA emigrieren zu können, wie wir aus dem Bericht eines damaligen Beamten wissen.
Durch die deutsche Besetzung der Niederlande konnten die Familie ihre Pläne nicht mehr in die Tat umsetzen. Die ganze Familie wurde 1943 im Vernichtungslager Sobibor ermordet, die Kinder waren gerade mal 13 und 11 Jahre alt.
Seit 2006 erinnern vier Stolpersteine in der Bahnhofstraße 20 an die Familie. Wir wollen nicht vergessen, wozu Hass auf andere führen kann, wozu Antisemitismus – hier bei uns in Nordhorn – geführt hat. Wir wollen dem Hass Vernunft, Mitgefühl und die Achtung menschlichen Lebens entgegensetzen.
Was muss sich Lion im Alter von 12 oder 13 Jahren gedacht haben?
Warum hasst man uns? Was ist so anders an uns? - Wie sollte dieser Junge überhaupt noch fröhlich sein?
Was haben sich Lion und Hanni wohl gewünscht?
Die Nordhorner Synagoge
In diesem Beitrag geht es nicht um eine jüdische Familie. Es geht um ein Gebäude, nämlich die Nordhorner Synagoge: Das Zentrum des jüdischen Lebens in Nordhorn. Die Synagoge war nicht nur ein Gotteshaus, sondern auch ein Lehrraum und ein Versammlungsort für die Gemeinschaft.
Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 änderte sich für die Juden in wenigen Jahren alles. Auch in Nordhorn. Unmittelbar nach dem Machtantritt kam es zu einer ersten Pogromnacht, bei der Nationalsozialisten die Nordhorner Synagoge aufbrachen und die komplette Einrichtung verwüsteten. Obwohl der Vorsitzende der Gemeinde, Salomon de Vries, Anzeige erstattete und die Täter ermittelt wurden, gab es nie ein Urteil.
Wir sprechen von einer Zeit, in der Unrecht wissend zugelassen wurde.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November im Jahr 1938 kam es zum Höhepunkt der Judenverfolgung. In Nordhorn wurde die Synagoge nicht wie in vielen anderen Städten Deutschlands angezündet. Die Nordhorner Bürger waren sogar ausdrücklich dagegen, die Synagoge abzubrennen. Aber nicht aus Mitleid oder Mitgefühl, sondern aus Angst um ihre eigenen Wohnhäuser. Denn hätte man die Synagoge angezündet, hätte das Feuer womöglich auf die umliegenden Häuser übergegriffen. Daher nahmen sich 20-30 SA-Männer Bauwerkzeuge eines örtlichen Bauunternehmens und fingen an, die Synagoge abzureißen.
Gegen die Zerstörung wurde nichts unternommen. Aber eine ordentliche und sichere Durchführung im Interesse des eigenen Besitzes, das war den Anwohnern wichtig.
Für die Zerstörung der Synagoge musste jedes Mitglied der jüdischen Gemeinde in Nordhorn Abbruchkosten von 250 Reichsmark zahlen. Die Juden in Nordhorn durften sich erst die Zerstörung ihrer Synagoge ansehen und mussten sie dann bezahlen.
Ein Vorgang dieser Art ist sicherlich nicht nur nach heutigen Maßstäben widerwärtig.
Außerdem war der Vorsteher Salomon de Vries gezwungen, das Grundstück für einen Spottpreis von 544 Reichsmark zu verkaufen. Das Synagogengrundstück wurde der jüdischen Gemeinde nie wieder zurückgegeben.
Tagebucheinträge von Friedrich Hopfeld (fiktiv, basierend auf wahren Begebenheiten)
- einige Monate vor der Flucht -
Liebes Tagebuch, heute hat Carl Strübbe mich erneut dazu gedrängt, das Land zu verlassen. Und je mehr Tage verstreichen, desto besser erscheint mir diese Idee. Denn in letzter Zeit ist es schwer für uns geworden: Unsere Meinung wird unterdrückt und unser Geschäft boykottiert – der Antisemitismus grassiert. Wieso sind die Menschen so? Warum Hitler? Warum kam er an die Macht? Ich habe so unglaublich viele Fragen und so wenige Antworten. Deswegen ist es wahrscheinlich besser für uns zu fliehen. Friedel ist sehr davon überzeugt, aber ich sehe darin auch ein großes Risiko. Wir könnten alles verlieren, weil wir alles verkaufen müssten. Bringt das genug Geld? Außerdem würde meine Tochter Helga am Boden zerstört sein, ihre Freunde verlassen zu müssen. Und sie ist doch noch so jung – versteht sie das überhaupt? Andererseits hätten wir neue Chancen und Rechte. Wir könnten ein komplett neues Leben anfangen – ohne Hitler und ohne Anfeindungen uns gegenüber. Außerdem kann Helga so wenigsten ohne Angst aufwachsen. Das Leben hier in Nordhorn ist auch nicht mehr schön und es könnte noch schwieriger werden, denn keiner weiß was Hitler als nächstes machen wird oder was die Nazis in Nordhorn machen werden. Und wenn man alles gut plant und überdenkt, müsste es auch funktionieren. Ich frag mal Carl, ob er mir helfen kann mit den Finanzen und der Flucht und alles was dazu gehört. Ich denke, wir sollten fliehen.
19.05.1937 (ca. drei Wochen nach der Flucht)
Liebes Tagebuch, geschafft! Wir sind in Detroit angekommen und haben ein Dach über dem Kopf und den Einstieg in die Arbeitswelt geschafft. Aber bis zu diesem Punkt mussten wir einen langen Weg gehen. Erstmal die Entscheidung zu treffen, hat Nächte gekostet. Und Nerven. Als das dann endlich geschafft war, mussten wir alles vorbereiten. Ich weiß nicht, was ich ohne Carl gemacht hätte. Hoffentlich geht es ihm gut. Sorgen um Geld haben wir dank ihm zum Glück nicht. Er hat in Nordhorn alles erfolgreich angekurbelt. Am Morgen der Abreise gab es allerdings noch einige Probleme – ich wachte mit Migräne auf, Helga weinte und Friedel war mit der ganzen Situation überfordert.
War aber auch klar – auf so eine Situation kann sich niemand vorbereiten. So etwas kann sich, glaube ich, niemand vorstellen. Kaum zu glauben, dass wir das durchmachen mussten. Nachdem wir uns alle wieder beruhigt hatten und ich eine Tablette genommen hatte, konnten wir endlich los. Carl half uns ein weiteres Mal und brachte uns zum Schiff. Dort angekommen war es diese komische Atmosphäre, man sagt „Tschüss“, bleibt aber stehen. Trotz der langen Vorbereitung, die Heimat zu verlassen, konnten wir unsere Tränen nicht zurückhalten. Die Matrosen riefen, dass es los ginge, und während wir zum Schiff liefen, wurde uns bewusst, dass es kein zurück mehr gibt und alle Ängste und Sorgen kamen wieder hoch. In Amerika angekommen, fuhren wir sofort weiter nach Detroit, weil wir erfahren hatten, dass es dort Arbeit und Englischkurse für Migranten gibt. Zurückblickend waren die ersten Wochen am schwersten für uns. Arbeit hatte ich zwar gefunden, aber Geld gab es dafür nur wenig. Außerdem brauchte Helga lange, um sich an ihr neues Leben zu gewöhnen. Sie hat viel geweint. Aber jetzt habe ich eine Geschäftsidee. Hoffentlich schaffen wir damit den Sprung zurück in ein schönes Leben.
27.04. 1959
Liebes Tagebuch, 10 Uhr: heute ist es soweit, ich komme endlich wieder nach Hause. Carl ist auch bei mir und wir wollen gemeinsam sehen, was aus Nordhorn und seinen Menschen geworden ist. Damals war es so…ja, darüber will ich gar nicht mehr nachdenken. Es war die richtige Entscheidung wegzuziehen und dank Carl war es auch nicht zu spät. Ich meine, wir haben überlebt und ich bin ein gutverdienender Geschäftsmann, doch meine Heimat fehlte mir immer…was werden die Menschen jetzt von uns denken? Werde ich alte Bekannte wiedersehen? Vor einem halben Jahr habe ich schon ein paar Briefe an alte Freunde verschickt, doch niemand hat geantwortet. Wie ist es ihnen ergangen? Sie können doch nicht alle tot sein. Oder? Aber hätten sie sonst nicht zurückgeschrieben? Haben sie sich etwa so verändert? Ich habe aber alles schon durchgeplant, einen Ami-Schlitten in Hannover gemietet und mit Carl gesprochen. Ich werde nicht den Kopf einziehen. Ich habe überlebt und in Amerika mein Glück gefunden und darauf bin ich stolz und das werde ich auch zeigen.
20 Uhr: Es war so ein gutes Gefühl durch Nordhorn zu fahren und wieder zuhause zu sein, dazu noch in dem Ami-Schlitten… ich habe viele komische Blicke zugeworfen bekommen, doch es war mir eine große Befriedigung, so durch die Stadt zu fahren! Am späten Nachmittag traf ich dann noch auf Dieter und wir haben ziemlich lange geredet. Er erzählte mir, was alles passiert ist: Vom Krieg, der Judenverfolgung, den Menschen und wie sie sich verändert haben. Die meisten Menschen, die ich kannte, waren tot. Meine jüdischen Bekannten und Freunde…weg…ermordet. Sie hatten nicht so viel Glück und konnten fliehen. Andere waren im Krieg gefallen und wieder andere, auch alte Freunde, hatten sich gegen Juden gewendet. Ich konnte es nicht fassen. Ich war zuhause, doch es fühlte sich nicht so an. Die ganze Gewalt, der Schmerz, … und dann erzählte er mit Bedauern von der Reichspogromnacht. Das Feuer, die ganzen unschuldigen Menschen…. Ich dachte, ich würde gleich zusammenbrechen. Ich konnte es nicht glauben. Wie konnte es soweit kommen? Wie können Menschen nur zu so etwas fähig sein? Ich war zuhause, aber wieder auch nicht, denn es würde nie wieder so sein wie früher. NICHTS konnte so etwas jemals ungeschehen machen.
Pogromnacht in Nordhorn
Schließ die Augen, stell dir vor, es ist der 10. November 1938. Die morgendliche Ruhe wirkt fast unheimlich. Als du aus dem Fenster schaust, trifft es dich wie ein Schlag. Überall Scherben; die Fenster der jüdischen Geschäfte und Häuser sind zerschlagen; wohin das Auge reicht, liegen Glassplitter und persönliche Gegenstände auf den Straßen.
Die gesamte Inneneinrichtung des gegenüberliegenden jüdischen Gotteshauses ist völlig verwüstet, die Arche und das Lesepult zertrümmert, die vier gotischen Fenster mit Steinen zerschlagen, die zweiflügelige Eingangstür hängt nur noch in ihren Angeln. Am Eingang hängt ein Schild mit der Aufschrift „SS-Sturmlokal“.
Langsam fängst du an, zu begreifen. Schon Wochen zuvor wurde gegen einige Juden in der Stadt gehetzt. Deine Nachbarn schauen aus den Fenstern; hinter ihren Vorhängen versteckt wagen sie es nicht, den Fuß aus ihrer Haustür zu setzen, bleiben stumm. Und auch in dir steigt Angst auf. Von deinen jüdischen Mitbürgern ist keine Spur zu sehen „Was mag ihnen wohl passiert sein, sind sie verletzt?“ Du versuchst diese schrecklichen Gedanken zu verdrängen…vergebens. Beunruhigung, Verzweiflung aber auch Wut entflammt in deiner Brust. Du verstehst nicht, wie es so weit kommen konnte. Dein Blick schweift wieder über die zerschlagenen Kultgegenstände deiner Mitmenschen. Doch niemand erhebt seine Stimme gegen das Geschehene.
Und dann geht alles ganz schnell: In den nächsten Wochen werden alle Grundstücke jüdischen Besitzes verkauft, jüdischen Kindern wird der Schulbesuch untersagt, viele von ihnen werden bei holländischen Verwandten untergebracht und auch immer mehr Familien fliehen in die Niederlande. Neue Gesetze und Verordnungen werden erlassen und auch ungesetzlich werden Juden mit Schikanen und Drangsalierungen eingeengt. Bis Hitler schließlich im Mai 1940 auch die Niederlande überfällt und die Ermordung, ja die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung, egal ob jung oder alt, in Vernichtungslagern beginnt.
Heute erinnert in dieser Straße die in das Pflaster eingelassene Platte an das Zentrum jüdischen Lebens in Nordhorn und an dieses unverzeihliche Verbrechen!
Schulfoto, Jahrgang 1929/30, oben rechts mit Zöpfen: Ruth Salomonson© Stadt Nordhorn
Tagebucheinträge von Max und Ruth Salomonson (fiktiv, beruhend auf wahren Begebenheiten)
unbekanntes Datum, Januar 1933
Mein Name ist Max Salomonson und ich führe dieses Tagebuch. Die neue Fleischerei läuft derzeit nicht gerade gut und wir sind fast bankrott. Wir werden boykottiert, weil wir Juden sind. Die Nazis in Nordhorn wollen nicht, dass Menschen bei uns einkaufen. „Kauft nicht bei Juden!“, diese Aussage wird hier leider von vielen beherzigt. Der Judenhass, die Ablehnung und Ausgrenzung sind für uns alle spürbar. Ich werde mein Bestes tun, um den Laden wieder zum Laufen zu bringen. Für meine Frau und meine Tochter.
2. März 1933
Es entstehen Unruhen in Berlin, doch die Folgen sind hier noch kaum spürbar. Man hört gewisse Gerüchte, zum Beispiel, dass der Reichstag gebrannt haben soll. Aber das ist nur Geseier. Im Gegensatz zur Hauptstadt geht es uns mittlerweile gut, denn das Geschäft läuft wieder einigermaßen.
25. Juni 1933
Mir geht es zurzeit nicht gerade gut. Ich war auch schon beim Arzt, aber er meinte, ich sei nur am Mosern. Aber ich merke, dass es mit von Tag zu Tag schlechter geht. Doch trotz meines Unwohlseins bin ich glücklich. Meine kleine Tochter entwickelt sich prächtig. Sie ähnelt ihrer Mutter immer mehr. Ich bin unglaublich stolz auf sie und freue mich darauf, sie weiterhin aufwachsen zu sehen.
7. August 1936
Hallo Papas Tagebuch, ich bin Ruth, die Tochter von Max. Beim Aufräumen des Kleiderschrankes habe ich dich unter einer Bodenplatte gefunden. Mein Vater ist vor drei Jahren an einer Blutvergiftung gestorben. Ich vermisse dich von Tag zu Tag mehr. Doch wirklich tot sind nur jene, an die sich niemand mehr erinnert. Weißt du, ich gehe jetzt auch schon in die Altendorfer Schule. Es macht mir dort total Spaß! Ich habe auch schon neue Mädchen kennengelernt! Morgen möchte ich mich mit ihnen treffen und mit ihnen spielen. Ich freue mich schon darauf! Vielleicht werden wir ja Freunde.
28. September 1938
Liebes Tagebuch von Papa, in der Zeit, in der ich dir nicht geschrieben habe, ist sehr viel passiert. So bin ich auf eine neue Schule gekommen. Jetzt bin ich auf der Burgschule. Und der Durchschnitt von meinem Herbstzeugnis liegt bei 2,6. Damit bin ich die fünftbeste in meiner Klasse. Meine Kunstnote hat meinen Schnitt leider ein bisschen runtergezogen, aber das macht nichts. Ich möchte eh nichts mit Kunst machen, wenn ich später groß bin. Ich möchte, so wie du Papa, meinen eigenen Laden haben! Vielleicht keine Fleischerei (Mama beschwert sich immer, wie viel Arbeit das doch ist), sondern vielleicht einen kleinen Krämerladen oder, so wie Onkel Friedrich, ein Textilgeschäft. Mama sagt Onkel Friedrich sei sehr reich. Ich möchte später auch so reich werden, um meine eigene Familie zu ernähren. Ich möchte nämlich fünf Kinder haben, weißt du, Papa. Aber erstmal beende ich meine Schule.
11. November 1938
Es ist etwas Schreckliches passiert! Diese Nazis haben vorgestern Abend die Synagoge unserer Gemeinde zerstört! Mit Werkzeug haben sie alles kaputt gemacht. Nichts ist mehr Heile geblieben. Sie haben unsere Tora-Rollen auf die Straße geschmissen, uns und unsere Religion ausgelacht, uns beschimpft und das aller schlimmste: sie haben alle Männer unserer Gemeinde gefangen genommen. Ich weiß nicht genau, wo sie hingebracht wurden. Mama meinte etwas von Oranienburg. Ich kenne diesen Ort nicht. Scheint weit weg zu sein. Aber Mama und die anderen Frauen wollen sie wieder abholen. Sie hat sich mit ihnen bei uns im Haus getroffen. Sie meinte ich soll in mein Zimmer gehen, weil ich noch zu klein sei. Doch ich habe sie ein bisschen belauscht. Sie hatte alle Angst und weinten.
25. November 1938
Sie haben es geschafft! Sie haben es wirklich geschafft! Mama und die anderen Frauen sind gestern mit den Männern wiedergekommen. Sie sind alle unversehrt. In der Zeit, als sie weg waren, habe ich bei meiner Freundin gewohnt. Wir haben viel Nonsens gemacht. Aber als ich heute wieder in die Schule gegangen bin, war sie nicht mehr nett zu mir. Sie meinte, dass ich nicht mehr zur Schule dürfte. Als ich dann meine Lehrerin gefragt habe, ob das denn wohl stimme, hat sie mich nach Hause geschickt, mit der Begründung, dass sie keine Juden mehr unterrichten wolle und dürfe. Zuhause habe ich geweint. Das ist unfair. Die anderen dürfen doch auch noch zur Schule. Was ist anders an mir? Ich bin doch genauso wie sie, oder?
29. November 1938
Hallo liebes Tagebuch von Papa, Mama schickt mich nach Almelo zu meiner Tante. Andere Kinder der Gemeinde kommen auch mit, nur die Mütter nicht. Warum nicht? Ich möchte nicht von Mama getrennt sein. Ich habe schon dich verloren, ich kann Mama nicht auch von verlieren! Außerdem möchte ich nicht von Zuhause weg. Hier sind meine Freunde, meine Familie und meine Spielsachen. Ich habe Angst allein Zug
zu fahren. Ich bin doch erst acht! Aber naja, Mama lässt sich nicht überreden. Ich höre sie nachts oft weinen. Ich möchte ihr nicht noch mehr Kummer bereiten.
22. Februar 1939
Ich habe heute von meiner Tante erfahren, dass Mama die Fleischerei verkaufen musste. Einfach so wurde sie dazu genötigt. Und das Schlimmste ist, dass Mama kein Geld dafür bekommen hat. Stell dir das mal vor! Die haben einfach UNSEREN Laden geraubt! Von was solle wir denn jetzt Leben? Hier in Almelo wird das Leben auch immer gefährlicher, hat meine Tante gesagt. Ich verstehe nicht, was die Männer in den Uniformen von uns wollen… wir haben doch nichts getan.
4. April 1939
Mama ist endlich gekommen, um mich zu holen. Ich habe mich riesig gefreut. Zwar sind wir nicht nach Hause gefahren, sondern nach Rotterdam, aber immerhin sind wir wieder zusammen. In der Gegend, in der wir wohnen, leben auch noch andere Juden wie wir, die von zu Hause weggezogen sind. Wir spielen oft zusammen im Hof Ball oder verstecken, werden dann aber immer von unseren Eltern ermahnt, wir sollen nicht so laut sein und rufen uns rein. Aber immer, wenn sie Sirenen hören oder diese Männer in den Uniformen sehen, müssen wir uns doch irgendwo verstecken. Manchmal verstehe ich die Erwachsenen nicht. Aber naja, solange wir nicht wieder umziehen müssen, ist alles gut.
10. Juli 1942
Wir wurden gefangen genommen. Mama meinte, wir würden nur noch mal umziehen müssen, aber mittlerweile verstehe ich, dass diese Männer uns Juden gefangen nehmen und uns in irgendwelche Sammellager stecken. Es ist ekelig und dreckig hier. Außerdem gibt es nicht genug Betten für alle. Mama und ich müssen oft ein Bett teilen. Manchmal muss ich auch mit bei einer fremden Person im Bett schlafen und Mama legt sich dann neben mich auf den kalten, dreckigen Boden. Sie weint sehr oft und ich versuche sie immer zu trösten. Dann nimmt sie mich in den Arm und beteuert mir, wie leid ihr alles täte, dass sie mich nicht schützen konnte. Dann bekomme ich auch immer Angst. Wovor wollte sie mich beschützen? Und was passiert jetzt mit uns? Werden wir für immer hier wohnen müssen? Es verschwinden immer häufiger Menschen aus dem Sammellager. Sie werden dann von den Aufsehern mitgenommen. Vielleicht werden sie wieder freigelassen. Ich hoffe, dass wir auch bald wieder freigelassen werden. Ich möchte ja noch meine Familie gründen und meinen Laden eröffnen. Ich habe mich mittlerweile umentschieden. Ich möchte keinen Krämerladen, sondern eine eigene Schule errichten, damit auch Kinder wie ich wieder zur Schule gehen können und nicht so enden wie ich.
In der Nacht vom 17. auf den 18. Juli 1942 wurden Ruth und Rika wie 2 Millionen andere Juden in Auschwitz ermordet. Ruth war damals 13 Jahre alt.